23. April 2018

»Sekundärer Antisemitismus«

Ich stehe vermutlich allein da mit meiner Meinung, dass man erst einmal nachdenken soll.
   Ich mag Juden, sehr, das kommt schon von meinem sel. Großvater, der mich vor sechzig Jahren erzogen hat. Er stammte noch aus dem »alten Österreich«. Da waren Juden hervorragend – ich meine das wörtlich: Sie ragten heraus, waren erkennbar, wurden erkannt. So stelle ich mir das vor. Heute erkennt, ja kennt keiner mehr welche, jedenfalls nicht hier. Dazu müssen sie schon mindestens Kippa tragen.
   Das alte Wien um die Jahrhundertwende, die von 1899 auf 1900, muss geprägt gewesen sein von Antisemitismus. Mein Großvater studierte dort. Wen er dort kannte, mit wem er verkehrte, weiß ich natürlich nicht. Jedenfalls war meine ganze Familie mit vielen Juden befreundet bis nach dem Krieg, wo uns – uns inzwischen kleine, glücklich vertriebene Leute – in Bozen Amerikaner mit großen Buicks, Servolenkung und Automatik besuchen kamen, aus New York, alte jüdische Freunde. Danach kamen in den Fünfzigerjahren erst wieder Lehrer aus meinem Internat in Oberbayern auf Durchreise nach dem Süden.
   Genug. So wie jeder alte Deutsche einen Junden im Keller versteckt hatte, hatte jeder Jude einen Verwandten gekannt im KZ, Sprüche, die gottlob aussterben. Großvaters Einstellungen und seine Lebenserinnerungen sind gesondert zu lesen, auf www.Joern.De/Hoedl.htm, speziell http://joern.de/hoedl.htm#Judenfrage.
   Ich wollte über meinen erschreckenden »Sekundärantisemitismus« schreiben.

Bild ARD
Anne Wills Gäste gestern Abend von links nach rechts:
– Katja Kipping, Parteivorsitzende der Linken
– Ulf Poschardt, Welt-Chefredakteur
– Volker Kauder, CDU, Vorsitzender der Unionsbundestagsfraktion
– (Anne Will)
– Shimon Stein, ehemaliger israelischer Botschafter in Deutschland
– Ahmad Mansour, Psychologe und Autor

Da hörte ich zum ersten Mal von »sekundärem Antisemitismus«: Ich bin ein Antisemit, das wurde mir klar.
  In der Diskussionsrunde gestern (22.4.2018) hat mich die implizite Definition eines »sekundären« Antisemitismus’ erschreckt. Shimon Stein meinte unwidersprochen, es gäbe bei zwanzig Prozent der Menschen in der deutschen Gesellschaft zumindest »sekundären Antisemitismus«, also Judenhass (so wörtlich im Stern), den es – angeblich – nicht trotz, sondern wegen Auschwitz gibt.

Sekundärer Antisemitismus: http://j.mp/2Jiql7t =
https://www.bs-anne-frank.de/fileadmin/user_upload/Slider/Publikationen/Broschuere_Weltbild_Antisemitismus.pdf#Page=52

Mediathek: http://j.mp/2HnsOx4 =
http://www.ardmediathek.de/tv/Anne-Will/Sendung?documentId=328454&bcastId=328454

Bericht von T-Online: http://j.mp/2Jj9lOu =
http://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/id_83650954/streit-um-integration-bei-anne-will-antisemitismus-ist-kein-import-.html

Focus zur Diskussion: http://j.mp/2HpdAHX =
https://www.focus.de/kultur/kino_tv/focus-fernsehclub/tv-kolumne-anne-will-kipping-ueber-rapper-kollegah-schwimmt-im-strom-der-rechtsextremen-mit_id_8802768.html

Die Welt zur Diskussion: http://j.mp/2HkcM76 =
 https://www.welt.de/vermischtes/article175702115/Anne-Will-Islam-Experte-Mansour-rechnet-mit-deutscher-Integrationspolitik-ab.html

FAZ: http://j.mp/2HojPLQ =
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/tv-kritik-zu-anne-will-antisemitismus-ist-manisch-15555593.html

Stern: http://j.mp/2JjdKRw =
https://www.stern.de/kultur/tv/anne-will-tv-kritik--antisemitismus-debatte-spaltet-die-runde-7953814.html

TAZ mit Zahlen und Gedanken zu sekundärem Antisemitismus:
http://www.taz.de/!5078699/
 
»Deutsche fühlen besondere moralische Verantwortung – aber keine Schuld«, Daten und Fakten in der FAZ: http://j.mp/2HKypAT =
http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/deutsche-fuehlen-verantwortung-aber-keine-schuld-15446803.html

––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––

Mir scheint, dass generell eine bloß historische Haltung zum Holocaust bereits Antisemitismus genannt wird. Ein ähnliches Missverständnis erlebte ich am Samstag, als mir durchaus gebildeter
Gesprächspartner zur Vertreibung der Deutschen (aus dem Osten) meinte, das sei ja die Folge ihrer Wahl Hitlers und ihres Nationalsozialismus’.

Ich meine:

Nichts gibt moralisch das Recht auf Hass. 
   Hass, Morde, Attentate, überhaupt Gewalt gegen Mitmenschen ist unter keinen Umständen zu rechtfertigen. Überspitzt ausgedrückt: Selbst wenn es die Konzentrationslager nicht gegeben hätte, dürfte man Juden nicht hassen, wie keine Volksgruppe auf der Welt!
   Wenn man schon Schuld und Moral in eine Geschichte einbringt, dann gehört dazu erst die Empörung über die Unmenschlichkeit, die Unmoral. Eine »Ursachenforschung«, ein »Warum?« ist sekundär, oft sensationalistisch.
   Ich fühle mich als Deutscher für den Holocaust persönlich nicht verantwortlich. Das aber macht mich weder zu einem Leugner der Gräueltaten, noch zu einem Antisemiten, noch zu irgendetwas sonstwie negativ Gezeichnetem. Ich hasse niemanden. Ich weigere mich nur, für etwa verantwortlich zu sein, was ich nicht getan habe. Ich bin auch nicht stolz auf Beethoven, obwohl ich ihn bewundere. Wer bin ich denn, dass ich urteile, verurteile, ein (sogar unwissender) Nachgeborener als göttlicher Richter?
   Polemisch lässt sich das so überspitzen: Ein jüngerer, in Deutschland eingebürgerter Türke, kann doch nicht nur deshalb als Antisemit bezeichnet werden, weil er die Verantwortung für den Holocaust ablehnt.
   Wir laden genug Schuld auf uns, von den Ertrunkenen im Mittelmeer bis zu den staatlich gutgeheißenen Raketenangriffen in Syrien (»völkerrechtswidrig«!) bis zu unmenschlichen Ausweisungen papierloser Frauen nach dreißig Jahren friedlichen und unauffälligen Lebens hier. Dazu kommen Stasi-Bespitzelungen und Schüsse an der Mauer – alles öffentlich ziemlich vergessen. homo homini lupus. Denken, »fühlen« wir daran.
   Der Holocaust wird sich nicht wiederholen. Die Roten Khmer bauten keine Gaskammern. Geschichte wiederholt sich nicht. Doch das Unrecht, das wir jetzt tun – (noch ein Beispiel:) allein durch jahrelange Asyl-»Verfahren« – das liegt mir auf der Seele.
   Und kritisieren tue ich – um zum Thema zurückzukommen – den Unfrieden in Israel, die illegale Siedlungspolitik, die Isolation des Gazastreifens. Warum ist die »Zweistaatenlösung« noch nicht gelöst, das heißt einfach durchgeführt? Hier wird fortwährend Hass gepflanzt.
   Am Schluss zur Vertreibung der Deutschen aus dem Osten: Politisch war es gut, dass keiner, nicht einmal ethnische Minderheiten übrigblieben. Da gibt es wenigstens heute keinen Anlass zu Streit …

Permalink hierher: http://j.mp/2HqnqZW =
 https://blogabissl.blogspot.com/2018/04/sekundarer-antisemitismus.html

Interessant in diesem Zusammenhang ein Gastbeitrag von Carlo Strenger aus Tel Aviv, der sich Gedanken macht über »US-Juden und ihr Verhältnis zu Israel«. Das amerikanische Judentum sei etwa so groß wie das israelische, aber zu über siebzig Prozent »klar liberal orientiert«. Hier nachzulesen: http://j.mp/2vZBUyT = https://www.nzz.ch/meinung/kolumnen/die-us-juden-und-israel-geschichte-einer-entfremdung-ld.1380624

Keine Kommentare: