31. Oktober 2015

scientes bonum et malum

Der Garten Eden im Stundenbuch des Herzogs von Berry
   Mephistopheles:
Grau, teurer Freund, ist alle Theorie,
Und grün des Lebens goldner Baum.
    Schüler:
Ich schwör Euch zu, mir ist's als wie ein Traum.
Dürft ich Euch wohl ein andermal beschweren,
Von Eurer Weisheit auf den Grund zu hören?
    Mephistopheles:
Was ich vermag, soll gern geschehn.
    Schüler:
Ich kann unmöglich wieder gehn,
Ich muß Euch noch mein Stammbuch überreichen,
Gönn Eure Gunst mir dieses Zeichen!
    Mephistopheles:
Sehr wohl. (Er schreibt und gibt’s.)
    Schüler (liest):
Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum.
(Macht's ehrerbietig zu und empfiehlt sich.)

Soweit Goethe, Faust, im Studierzimmer (Kapitel 7).
   Ein Interpret kommt zur Sache: »›Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum‹, schreibt Mephisto ins Stammbuch des Schülers. Die Erkenntnis des Guten und des Bösen, die mit dem biblischen Sündenfall einhergeht, schlägt sich zu allererst in der Sexualmoral nieder. ›Und sie erkannten, dass sie nackt waren‹«.
   Das alles kommt aus dem Alten Testament, der Genesis, 3. Kapitel:
   Die Schlange war schlauer als alle Tiere des Feldes, die Gott, der Herr, gemacht hatte. Sie [, die Schlange,] sagte zur Frau: »Hat Gott wirklich gesagt: »Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen‹«? – Die Frau entgegnete der Schlange: »Von den Früchten der Bäume im Garten dürfen wir essen; nur von den Früchten des Baumes, der in der Mitte des Gartens steht, hat Gott gesagt: »Davon dürft ihr nicht essen und daran dürft ihr nicht rühren, sonst werdet ihr sterben.« – Darauf sagte die Schlange zur Frau: »Nein, ihr werdet nicht sterben. Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse.« (Gen. 3,1)
   Hatte die Schlange recht? Nein, es war alles gelogen: Wir sterben, wie das Gott schon geahnt hatte, und was gut und schlecht ist, bleibt uns nach wie vor verborgen. Irgendwo steht immer noch (s. Wikipedia) der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse (hebr. עץ הדעת טוב ורע °ez had-da°at tôb wâ-râ, griech. τὸ ξύλον τοῦ εἰδέναι γνωστὸν καλοῦ καὶ πονηροῦ, lat. lignum sapientiae boni et mali).
   Was es mit dem Baum des Lebens daneben auf sich hatte, bleibt meines Erachtens noch düsterer (Gott, der Herr, ließ aus dem Ackerboden allerlei Bäume wachsen, verlockend anzusehen und mit köstlichen Früchten, in der Mitte des Gartens aber den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Gen. 2,9).
Michelangelo: Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies (Deckenfresko in der Sixtinischen Kapelle)
Was ich mich frage: Warum war’s so wichig, zu wissen, was gut und was böse ist? Dass Eva dafür ihr und Adams Leben riskierte – oder war sie nur leichtsinnig, neugierig, auf was Neues aus? Egal.
   Heute suchen wir nach dem Schönen, nach Genuss, Freude, Glück, Wellness, der idealen Diät oder Jobsicherheit. Das hat alles nichts mit Gut und Böse zu tun.
   Eine gute, von allen anerkannte Auslegung der Geschichte gibt es meines Wissens nicht. Die Angst, Böses zu tun, muss aber wohl auf eine drohende, ausgleichende Gerechtigkeit, etwa auf die Hölle zurückzuführen sein. Und die haben wir inzwischen verdrängt. Hölle und Jüngstes Gericht sind politisch nicht mehr korrekt. Vermutlich werden wir Hitler im Himmel begegnen …
   Der biblische Gottvater meint, die Kenntnis von Gut und Böse würde uns töten, vielleicht uns blenden wie ein Laserstrahl, den nur er selbst aushalten kann. Und dann passiert das ja auch, nach dem Sündenfall: Die beiden schämen sich vor Gott, und sterben tun sie auch.
   Wie das andernfalls ausgegangen wäre, wissen wir nicht. Dann wären heute wohl Eva wie Adam zweihunderttaused Jahre alt minus fünf Tage; »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie«. (Gen. 1,27). Oder war Eva doch etwas jünger? »Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu.« (Gen. 2,22). Wie auch immer. Keiner von uns war dabei. (Oder alle, wenn man an die Erbsünde glaubt.)
   Jedenfalls ist seit damals die Sexualmoral umstritten. Darf man, oder darf man nicht? Wer wann mit wem? Wo, vor allem wie? Auch alleine?
   Inzwischen hat das Wissen um Gut und Böse die römisch-katholische Kirche direkt von Gott übernommen, allerdings vom Junior. Diese Kirche ist sich sicher, was geht, was sein darf. Andere Kirchen haben’s da einfacher. Sie überlassen es gleich dem individuellen Gewissen des Gläubigen, wie er die Sache hält. Ein konkretes Beispiel: »Die Evangelischen sehen Empfängnisverhütung in der Tat positiv, weil sie nämlich verantwortliche Elternschaft bedeutet und Sexualität als ›gute Gabe Gottes‹ betrachtet.«, so jüngst Frau Käßmann. Bei den Katholiken ist das etwas umständlicher, hier im Katechismus nachzulesen. Das Prinzip scheint inzwischen gelockert. In der Praxis hält sich eh keiner dran. 
   Im Großen geht das Dilemma weiter. Da werden katholischerseits Ehen reihenweise für nichtig erklärt, über protestantische wird hinweggesehen. Ich habe selbst in meiner zweiten Ehe davon profitiert, dass die Katholiken meine erste ignorierten. Das Systems ist verlogen, jedenfalls vor Gott, und auf Erden ein einziges Herumgeeiere.
   Wie kommt die Kirche aus dem Dilemma wieder heraus? Die Synode hat einstweilen nichts gebracht – kein Wunder, entschließt sie selbst doch nichts und berät nur den Papst. Einen Bericht in der NZZ hab’ ich so kommentiert:

Nur ein etwas großzügigerer Glaube wird weiterführen: Zulassung eines jeden zur Kommunion – wie das heute hier de facto praktiziert wird – in der Hoffnung, der Leib Christi wird schon selbst wissen, wo er sich wie entfaltet, in Beurteilung des Einzelfalls wie beim Jüngsten Gericht wohl auch. Solange haben wir verlogene Verhältnisse. Ich gehe glücklich zur Kommunion, auch wenn ich das Sonntagsgebot ein paar Wochen lang missachtet habe (eine Todsünde), ich wurde zu meiner zweiten Ehe vom hiesigen Stadtdechanten im Münster getraut. Wie das? Meine erste Ehe war protestantisch, weil die Katholiken verlangt hätten, dass meine Verlobte konvertiert. Wir haben’s dann bei der Konkurrenz »billiger« bekommen und mussten »nur« die Kinder protestantisch erziehen, für mich eine interessante Erfahrung. Als nach der Scheidung meine zweite Hochzeit anstand, ging das katholischerseits glatt, denn die erste Ehe hatte ja nicht stattgefunden. Der Glaube meiner zweiten Frau wurde nicht hinterfragt; die katholische Kirche ist lasch geworden, und Gott liebt alle (Stichwort pro multis, bis heute in der Messe nicht korrigiert). Mehr Glaube, mehr Gottvertrauen, und weniger Rigorismus bitte.
   Links: Instrumentum Laboris, Papstansprache, Vatikanbericht.
   http://synode15.ch/category/medienspiegel/
Todsünden, katholisch hier; protestantisch nach Ferdinand Christian Baur, 1836, hier.

Link hierher:     
   http://blogabissl.blogspot.com/2015/10/scientes-bonum-et-malum.html



Der erste Kommentar kam schon herein, über E-Mail. In der Tat verpatze ich mir manches ordentliches Argument durch Polemik: Der geneigte Leser neigt dann dazu, sich zu ärgern, und macht »dicht«. Polemik sollte, wenn überhaupt, erst ganz am Ende stehen. Mir macht’s halt gar soviel Spass, was ich bitte zu verstehen …
   Zur Sache. Hier der Kommentar, wörtlich, anfangs zitierend:
·   »Inzwischen hat das Wissen um Gut und Böse die römisch-katholische Kirche direkt von Gott übernommen, allerdings vom Junior. Sie ist sich sicher, was geht, was sein darf. Andere Kirchen haben’s da einfacher. Sie überlassen es gleich dem individuellen Gewissen des Gläubigen, wie er die Sache hält.« – Polemik gut und schön, aber das »sicher«, »einfacher« und »Gewissen des Gläubigen« sind doch sehr kurzgegriffene Aspekte, die nicht nur Ihren Gesamtbeitrag schwächen, sondern auch sachlich schwer zutreffen. Weder im (klassischen) Protestantismus oder gar der orthodox-orientalischen Tradition sind dem Gewissen dermaßen Kompetenzen zugeschrieben, dass sich daraus (so lese ich Ihr Zitat, auch wenn Sie vielleicht anderes intendierten) ein gewisser Individualismus/Relativismus/Subjektivismus ableiten lässt. »Sicher« ist eine schwierige Kategorie, denn allein die Realität einer Synode, wie sie aktuell in Rom stattfand, zeigt die Gewissenhaftigkeit und ›Un-Sicherheit‹. Immer wieder wurde geprüft, hinterfragt und reflektiert, wenn die Kirche zentrale Fragen des Glaubens in der Autorität ihres Herrn und Gottes, des Stifters der Kirche, zu klären versuchte.
·   »Einfacher« ist dabei nicht immer ein Gütesiegel, was das von Ihnen zur Veranschaulichung gebrachte Beispiel demonstriert:
   … »Die Evangelischen sehen Empfängnisverhütung in der Tat positiv, weil sie nämlich verantwortliche Elternschaft bedeutet und Sexualität als ›gute Gabe Gottes‹ betrachtet.«, so jüngst Frau Käßmann. Bei den Katholiken ist das etwas umständlicher, hier im Katechismus nachzulesen.« – In meinen Augen ist der Katechismus erfreulicherweise sowie zu Recht komplizierter, damit der Komplexität besser Rechnung getragen wird. M. Käßmann – was wäre hier alles zu sagen – ist gerade in diesem Punkt mal wieder Parade-Protestantin (und zwar des derzeit realen Protestantismus): Sie suggeriert nämlich in meinen Augen mit ihrer Aussage, dass verantwortliche Elternschaft sowie Sexualität als »gute Gabe Gottes« zu betrachten nur mit Empfängnisverhütung möglich ist, wobei letztere (wie so oft: unausgesprochen) die künstliche meint, wie ich unterstelle (da es nicht expliziert wird). …
·  »Das Prinzip scheint inzwischen gelockert. In der Praxis hält sich eh keiner dran.« – Diese    Verallgemeinerung umgeht in meinen Augen die argumentative Auseinandersetzung, was aber für das Beitragsthema auch nicht anders möglich ist. Trotzdem ist es mir zu pauschal, »keiner« kann ich prompt widerlegen ;)
   – Soweit der gute Kommentar. Jetzt wieder bissl ich darauf:
   Natürlich ist die katholische Kirche, menschlich-moralisch wie alle, ebenfalls unsicher, sonst hätten wir die aktuelle Synode nicht erlebt. Und die Protestanten haben durchaus ihre Grundsätze, nicht nur alles gewissensfrei. Als ich meine ersten Kinder protestantisch erzog, war mir (katholisch Erzogenem) das Unabfragbare bei den Protestanten als Mangel aufgefallen. Oder hab’ ich nur nicht die richtigen gefragt? Dagegen mag der ausführliche katholische Katechismus überholt sein, überholungsbedürftig sein (mein’ ich), jedenfalls kann er als Vorlage dienen, zu (viel) Anregung, (etwas) Auslegung, (viel) Kritik. Da hat man erst mal was in der Hand: www.vatican.va/archive/DEU0035/_INDEX.HTM.
   Mir hatte die Frage »Was ist Todsünde?« noch schwer im Magen gelegen, folgte daraus doch die Pflicht zum (dann oft peinlichen) Beichten.
   Der praktische Katholik hält sich nicht an den (kompletten) Katechismus, möchte ich trotzdem weiter statuieren. »Wir sind allzumal Sünder«, ist dafür noch die einfachste Begründung. Ein Franziskaner in Salzburg hat einst im Beichtstuhl meiner Mutter das Primat des Gewissens nahegebracht und sie »bei sich« zur Kommunion zugelassen, eine wahre Erlösung für die fromme, mit einem Geschiedenen verheiratete Frau aus einem Dorf im Umland. Vergelt’s ihm Gott!

Die brisante Hauptfrage bleibt mir:
   Warum kümmern wir uns heute weniger als früher um Gut und Böse? Emanzipation? Mir ist als stünde ich auf dünnem Eis unsicherer Verhaltensregeln.

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