9. März 2013

Weg am Friedhof in Dortmund
Bericht eines ungelebten Lebens

Man muss sich das einmal vorstellen. Nach ein paar Jahren im Purgatorium (man war »Lateiner«) kommt man endlich in den Himmel, entsprechend abgekämpft und noch älter als man bei seinem Tod schon war. Hinter der Pforte, die man sich wie eine ameri­ka­nische Pass­­kon­trolle denken darf, tritt man endlich ins volle Himmelsleben. Die Seelen schweben nur so umher, drei­di­men­sio­nal, Metro­­polis. Auf der Suche nach Ver­wandt­schaft kommt man mehr und mehr in bekannte Kreise. Da sind schon ein paar Schul­freunde – viele haben’s nicht geschafft hierher oder genießen noch ihren »wohl­verdienten Ruhe­stand« – dann Jugend­freundinnen, peinlich eher, sie vereint zu sehen, die man doch so mühsam von­ein­ander getrennt geliebt hatte. Etwas höher thront die Familie, Vorfahren-seits. Da geht’s richtig in die Menge, denn die Leute waren noch fromm und arm, und das war immer schon mühsam und gott­gefällig. Ob einem die alle passen, man sie mag? Ich will’s nicht weiter ausschmücken. Das Haupt­problem in der Ewigkeit ist, mangels laufender Zeit, alles Musikalische, jeglicher Datenfluss, Tag und Nacht im Wechsel; das alles fehlt im Himmel. Schade.
   Und dann treffe ich eine junge Frau, Mutter dreier Kinder, sportlich, außer Atem. – Nein, sagt sie, im Himmel sei sie noch nicht, wisse auch nicht genau, was das sei. Sie mache nur gerade Urlaub in Griechenland, und da habe sie sich auf einem Berg verlaufen, hoch oben über dem Meer. Ob ich den Weg zurück zu ihrer Pension wisse, ich sei doch ihr Vater. Natürlich weiß ich den Weg nicht, der Blackberry mit Google-Maps ist zu Hause geblieben beim eigenen Tod. Und wieso soll das meine Tochter sein? Ich hab’ in der Wirklichkeit zwei Töchter, ganz unterschiedlichen Alters, beide aber – unberufen – noch fröhlich am Leben und keineswegs in Griechenland.
   Ich versuche der Frau die Ferienstimmung wiederzugeben, die Ruhe, den weiten Blick übers Meer, Gottvertrauen in einen Rückweg, der sich schon finden wird. Wir setzen uns auf eine Bank, griechisch vom örtlichen Verschönerungsverein, und blicken auf die schon sinkende Sonne. Sie sagt: Ich war damals nicht einfach tot, 1981, als kleines, blasses Kind. Meine Seele ist gewandert. Sie ist mitgegangen mit euch, eine Zeit lang schon, bis es mir zu dumm wurde, zu eng, zu spießig, zu beschützt. Deswegen hätte ich dann nichts mehr von ihr gehört, auch in Gedanken nicht. Ab in ihre »Privacy« sei sie gezogen; wir Alten hätten uns eh mehr um uns selbst gekümmert, um den Beruf, den Garten, klassische Konzerte, oh Gott! Ab achtzehn ist eine voll im Datenschutz, da haben die Eltern keine Aktien mehr im Leben der Kinder, stimmen gar nicht mehr mit im Aufsichtsrat, selbst wenn sie wollten. Die Familie ist ein Auslaufmodell, sagt man, und weg ist sie.
   Ich hab’ früh geheiratet, ja, richtig mit Ehe und so, erzählt sie weiter. Das war damals nach der Jahrtausendwende noch durchaus möglich, ohne sich gleich in die Spießer-Ecke zu stellen. Außerdem war der kleine Marco schon unterwegs, und da sollte es was Festes sein. Kinder brauchen Mutter und Vater. Was ich nicht bestätigen konnte, aber schwieg, weil der Abend so schön war und das Meer und die Stimmung, ohnehin eine geisterhafte.
   Mein Mann ist Buchhalter, Urlaub in Griechenland machen wir pauschal, da passt das schon, sagt sie. Und jetzt muss ich wirklich zurück, sonst macht er sich Sorgen. – Quer durch den Weinberg, rate ich, rechts die steinernen Treppen hinunter, herum um den Hügel, denn ich habe den Überblick. Sie aber hat ein Handy, da kann sie Gerd anrufen, kann sagen, sie käme bald, habe sich nur mit einem alten Griechen unterhalten, und da sei’s halt später geworden. Der Mann hätte ihr Vater sein können.
   Für mich aber geht die Sonne nicht mehr unter. Sch… Ewigkeit!

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